Du hast dir wochenlang den Kopf zerbrochen, nächtelang experimentiert, unzählige Demo-Versionen verschlissen. Endlich hast du ihn gefunden: Deinen ganz eigenen, unverwechselbaren Sound! Voller Stolz präsentierst du deiner Band oder deinen Freunden: „Wir machen jetzt ‚Post-Progressive-Indie-Dream-Pop mit Ska-Offbeats und einer Prise Black-Metal-Growls‘!“ Die Reaktion? Ein Nicken. Ein leichtes Lächeln. Und das leise, aber unerbittliche Echo in der Luft: „Ähm… was genau soll das sein?“
Willkommen, liebe Newcomer, in der harten Realität der Musikindustrie – einer Welt, in der deine künstlerische Einzigartigkeit manchmal schneller zur Sackgasse wird, als du „Genre-Hybrid“ buchstabieren kannst.
Die Schublade in der Schublade in der Schublade: Ein Karriere-Killer?
Versteh uns nicht falsch: Kreativität ist der Treibstoff der Musik. Die Fusion von Stilen kann zu Genialität führen. Aber bevor du dein Genre auf die Länge eines durchschnittlichen Romankapitels ausdehnst, solltest du eine grundlegende Marketing-Wahrheit verstehen: Menschen müssen deine Musik einordnen können.
Stell dir vor, du gehst in einen Plattenladen (ja, die gab’s mal) oder scrollst durch einen Streamingdienst. Wie findest du neue Musik? Wahrscheinlich über Genres. Du suchst nach „Rock“, „Pop“, „Hip-Hop“ oder „Electronic“. Wenn du dann auf ein Bandprofil stößt, das sich als „Melodischer Death Metal Hardcore mit abgeschwächten Trance-Einflüssen und einer folkloristischen Dudelsack-Einlage“ beschreibt, dann passiert im Gehirn des potenziellen Hörers folgendes:
- Verwirrung: Hä? Was soll ich mir darunter vorstellen?
- Überforderung: Zu viele Informationen, zu abstrakt.
- Desinteresse: Ach komm, ich höre lieber das, was ich kenne.
Die Folge? Der Hörer klickt weiter. Dein unverwechselbarer Sound? Ungeliebt, ungehört, unentdeckt.
Warum das so ist (und wie du es nutzen kannst)
Es ist nicht böse gemeint, wenn Leute nach Schubladen fragen. Es ist ein menschliches Grundbedürfnis, Dinge zu kategorisieren, um sie zu verstehen. Dein „Melodischer Death Metal Hardcore mit abgeschwächten Trance-Einflüssen“ mag für dich glasklar sein, aber für den Rest der Welt ist er eine kryptische Gleichung ohne Lösung.
Hier kommen die nützlichen Hinweise für dich:
- Dein Genre ist dein erster Elevator Pitch: Wenn du einem Label, einem Veranstalter, einem Radio-DJ oder einem potenziellen Fan deine Musik beschreiben musst, brauchst du eine klare, knackige und nachvollziehbare Genre-Bezeichnung. Stell dir vor, du hast nur 5 Sekunden, um zu erklären, was du machst.
- Sei ehrlich, aber nicht zu spezifisch: Ja, deine Musik ist einzigartig. Aber sie hat wahrscheinlich Ankerpunkte zu bekannten Genres. Bist du primär Rock? Pop? Elektro? Beginne dort.
- Nutze Referenzen, aber kopier sie nicht: Statt dein Sub-Sub-Sub-Genre zu erfinden, sag lieber: „Wir machen Alternative Rock mit elektronischen Elementen, vergleichbar mit den frühen Linkin Park, aber mit einer eigenen, modernen Note.“ Boom! Der Hörer hat sofort eine Vorstellung.
- Die Musik spricht für sich – irgendwann: Dein Sound mag tatsächlich bahnbrechend sein. Aber das muss der Hörer selbst entdecken. Dein Job ist es, ihn überhaupt erst mal zum Hören zu bringen. Und dafür braucht es eine verständliche „Eintrittstür“.
- Das Genre ist ein Marketing-Tool, kein künstlerisches Dogma: Sieh die Genre-Bezeichnung als ein Werkzeug, um dein Produkt am Markt zu positionieren. Es definiert nicht deine künstlerische Seele! Wenn du erst mal bekannt bist, kannst du dich so wild und unkategorisierbar austoben, wie du willst. Dann bist du vielleicht das „Dings“, das keine Schublade braucht. Aber am Anfang braucht dich die Schublade.
- „Wir machen einfach Musik“: Das ist ein oft gehörter Satz von Musikern, die sich nicht festlegen wollen. Künstlerisch mag das stimmen. Kommerziell ist es Selbstmord. Wenn du einfach Musik machst, dann musst du damit leben, dass dich niemand findet.
Fazit: Weniger ist manchmal mehr (im Marketing)
Dein Sound mag so einzigartig sein, dass er eine eigene Kategorie verdient. Aber die Welt ist faul, und Musik ist ein Überflussgut. Gib den Leuten eine Handhabe. Hilf ihnen, dich zu finden. Steck dich selbst (zunächst) in eine Schublade. Nicht für dich, sondern für die da draußen. Denn nur wenn sie dich finden und verstehen, was du im Groben machst, geben sie dir überhaupt die Chance, ihre Köpfe mit deinem „abgeschwächten Trance mit Dudelsack“ zu sprengen.
Also, ran an die „Standard-Schublade“ – damit du überhaupt die Chance bekommst, sie später voller Stolz zu sprengen!